Wenn der Augenblick spricht

Ich war lange unterwegs in der Welt der Werdenden. Ich hetzte durch Tage, jagte Bedeutungen, suchte Ziele. Ich wollte etwas erreichen, etwas beweisen – vielleicht mir selbst, vielleicht einem anderen, der längst nicht mehr hinsah.

MEDITATIVES SCHREIBEN

5/15/20254 min lesen

Wenn der Augenblick spricht

Ich sitze still. Kein Ziel treibt mich, kein Plan wartet auf Umsetzung. Nur dieser Moment, dieses Jetzt, das sich ausbreitet wie ein stiller See am frühen Morgen. Die Geräusche um mich herum – ein fernes Vogelrufen, das Rascheln der Blätter – erscheinen mir nicht mehr wie beiläufige Kulisse, sondern wie Zeichen, Hinweise einer Welt, die zu mir spricht. Es ist ein zartes Sprechen, frei von Worten. Und ich spüre: Der Augenblick ist lebendig.

Es hat lange gedauert, bis ich seine Sprache verstand.

Ich war lange unterwegs in der Welt der Werdenden. Ich hetzte durch Tage, jagte Bedeutungen, suchte Ziele. Ich wollte etwas erreichen, etwas beweisen – vielleicht mir selbst, vielleicht einem anderen, der längst nicht mehr hinsah. Ich war getrieben von der Vorstellung, dass das Leben in der Zukunft liegt, in jenem Ort, wo alles gut wird, wenn ich nur erst genug getan, gelitten und gestritten habe.

Aber der Augenblick ließ sich nicht vertreiben. Er wartete. Geduldig, wie nur das Zeitlose warten kann.

Ich fühlte mich schuldig, wenn ich innehielt. Als würde ich etwas versäumen. Als sei Müßiggang ein Verrat an der Welt. Dabei war das Innehalten nichts anderes als eine Rückkehr. Eine Heimkehr zu mir selbst. Wenn ich heute sitze – ohne zu streben, ohne zu eilen – dann höre ich ihn wieder: den Augenblick, der spricht.

Er spricht nicht in Sätzen, nicht in Gedanken. Er spricht im Sein. In jenem Zustand, den man nicht herstellt, sondern nur zulässt. Es ist wie ein inneres Verstummen, ein Sich-Öffnen, ein Lauschen. Plötzlich ist da kein Widerstand mehr gegen das, was ist. Keine Forderung, dass es anders sein soll. Keine Flucht in Erinnerungen, keine Flucht in Erwartungen. Nur das Jetzt – und ich, der es endlich empfängt.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem mir das zum ersten Mal wirklich bewusst wurde. Es war nichts Besonderes – ein gewöhnlicher Tag im Spätsommer, das Licht weich, die Welt wie in Gold getaucht. Ich ging durch einen kleinen Wald, langsam und ohne Ziel. Mein Blick fiel auf einen alten Baum, knorrig, moosbedeckt, scheinbar verwachsen mit der Zeit selbst. Und in diesem Moment – als der Wind sanft durch die Zweige strich und ein einzelnes Blatt zu Boden segelte – war alles vollkommen.

Ich kann es nicht anders beschreiben. Die Zeit stand still. Oder vielleicht fiel ich aus der Zeit. Es gab keine Vergangenheit, die mich bedrückte, keine Zukunft, die lockte. Nur dieser eine, goldene Augenblick – still, tief, voller Wahrheit. Ich war nicht Beobachter, ich war Teil davon. Eins.

Seit jenem Tag weiß ich, dass der Augenblick heilig ist.

Er ist kein flüchtiger Gast, den man mit Kalendern und Terminen einfangen kann. Er ist eine Tür – weit offen, wenn ich still genug bin, um sie zu sehen. Und wenn ich hindurchtrete, lässt er mich all das vergessen, was ich zu sein glaubte. Er erinnert mich an das, was ich bin.

Manchmal habe ich mich gefragt, warum wir so selten wirklich da sind. Warum wir dem gegenwärtigen Moment so wenig Raum geben, wo er doch das Einzige ist, was uns wirklich gehört. Vielleicht liegt es daran, dass er uns nichts verspricht. Kein „Wenn, dann“. Kein „Bald schon wirst du…“. Der Augenblick gibt nichts – er ist. Gerade das macht ihn so kostbar. Denn in seiner Schlichtheit offenbart sich das Wunder.

Es braucht keine besonderen Umstände, um ihn zu finden. Kein Retreat oder kein heiliges Ritual. Der Augenblick spricht überall – in der Tasse Tee am Fenster, im Blick eines geliebten Menschen, in der Stille vor dem Einschlafen. Nur das Lauschen ist nötig. Der Mut, ihn nicht gleich mit Gedanken zu übermalen.

Ich habe gelernt, dass dieses Lauschen ein Akt der Liebe ist. Eine Liebe zum Leben selbst – nicht zu dem, was es bringen könnte, sondern zu dem, was es ist. Diese Liebe ist still, nicht fordernd. Sie urteilt nicht. Sie sagt: „So wie du jetzt bist – genau so – bist du Teil von allem.“

Manchmal, wenn ich am Morgen erwache, lasse ich das Licht durch die halb geöffneten Läden streichen und bleibe einfach liegen. Ich atme, nicht um etwas zu erreichen, sondern um zu spüren. Ich öffne mich der Welt, ohne sie zu kontrollieren. Immer wenn ich Glück habe – oder besser: wenn ich wach genug bin – dann spricht der Augenblick auch dann. Leise. Wie ein Freund, den man lange nicht gesehen hat und der doch immer da war.

Er spricht durch die Stille. Durch das Lächeln des Kindes in mir. Durch den Rhythmus meines Atems. Und durch eine Wahrheit, die sich nicht erklären lässt, sondern nur erfahren werden will: dass ich lebe. Jetzt.

Der Augenblick ist der Lehrer, den ich lange überhörte. Nicht, weil er nicht sprach, sondern weil ich nicht zuhörte. Ich suchte Antworten in Büchern, in Gesprächen, in Konzepten... Aber der Augenblick lehrt nicht durch Erklärung – sondern durch Präsenz.

Was er mich lehrt, ist Demut. Dankbarkeit. Denn in ihm erkenne ich: Nichts ist selbstverständlich. Nicht der Atem. Nicht das Lächeln eines Fremden. Nicht die Möglichkeit, zu fühlen, zu lieben, zu staunen... Alles ist Geschenk.

Ich beginne zu begreifen, dass das Leben nicht aus großen Ereignissen besteht, sondern aus tausend kleinen Momenten, die wir leider übersehen. Wenn der Augenblick spricht – wenn wir ihn hören – dann offenbart sich darin ein tiefer Friede. Eine Ahnung von Sinn, die keinen Namen braucht.

So gehe ich weiter, von Moment zu Moment. Ich laufe nicht mehr. Ich taste, lausche - ich bin. Nicht immer gelingt es mir. Oft falle ich zurück in das alte Rennen, das Streben und das Denken. Aber der Augenblick ist geduldig. Er wartet, immer. Sobald ich still werde, ist er wieder da.

Dann höre ich ihn, wie er mir sagt: „Du bist nicht auf dem Weg zu dir – du bist längst da.“