Die Rückkehr zum Jetzt
Viele spirituelle Traditionen, von der buddhistischen Achtsamkeitspraxis bis zur christlichen Mystik, betonen diese Rückkehr zur Gegenwart. Sie sprechen vom inneren Raum, vom Hier und Jetzt, vom wachen Sein.
MEDITATIVES SCHREIBEN
5/7/20254 min lesen
Die Rückkehr zum Jetzt
Es gibt eine Zeit, die nicht auf Uhren gemessen wird. Eine Zeit, die keine Zeiger braucht, keine Termine, keine Kalenderblätter. Es ist die Gegenwart – nicht im Sinne der gerade vergehenden Sekunde, sondern als ein Zustand des bewussten Erlebens. Diese Gegenwart lebt nicht in der Mechanik des Taktzählens, sondern im Empfinden, in der Aufmerksamkeit, in der stillen Berührung zwischen Seele und Welt. Sie ist da – immer – aber wir übersehen sie. Denn sobald der Tag beginnt, sobald wir die Augen öffnen und unser Geist anspringt wie ein Motor, verlieren wir sie. Die Gedanken eilen voraus oder zurück. Der Mensch reist in seinem Kopf, nicht in der Welt: zurück in Erinnerungen, vorwärts in Erwartungen – und verliert dabei das Einzige, das wirklich greifbar ist: das Jetzt.
Die Rückkehr zum Jetzt ist keine Reise im geografischen Sinn. Sie braucht kein Ticket, keine Bewegung durch Raum, kein Ziel im Außen. Sie ist eine Heimkehr. Eine Heimkehr in sich selbst, in einen Ort, den man nicht sieht, aber fühlt. Diese Rückkehr ist leise. Kein großes Ereignis kündigt sie an. Sie geschieht im Moment des Innehaltens, wenn man den Lärm der Welt ausblendet und beginnt, wieder zu hören – nicht den Verkehr, nicht das Handy, nicht die Stimme der To-do-Liste, sondern das, was darunter liegt: den Wind, der durch die Blätter geht. Das eigene Herz, das schlägt. Den Atem, der ein- und ausfließt, wie ein ruhiger Fluss, der nie versiegt.
Vielleicht passiert sie, wenn man allein im Wald steht und nichts tut, außer zu sein.
Vielleicht auch, wenn man auf einer überfüllten Straße plötzlich innehält und den Moment bemerkt: wie die Sonne auf das Kopfsteinpflaster fällt, wie der Geruch von frisch gebackenem Brot durch die Luft zieht.
Es ist ein Augenblick der Präsenz – und er reicht.
Doch so einfach es klingt, so schwer ist es. Viele fliehen vor dieser Rückkehr. Nicht, weil sie nicht wüssten, dass das Jetzt wichtig ist, sondern weil es unbequem ist. Im Jetzt gibt es keine Ablenkung, keine Fluchtmöglichkeit. Alles, was wir übergangen haben, taucht auf: unerledigte Gefühle, alte Ängste, Einsamkeit, Müdigkeit, der leise Schmerz über verpasste Chancen. Das Jetzt verlangt Ehrlichkeit – mit sich selbst. Genau darin liegt seine heilende Kraft. Denn es ist das Einzige, das nicht lügt. Die Vergangenheit ist ein Konstrukt unserer Erinnerung, fast immer verzerrt. Die Zukunft ist Projektion. Nur das Jetzt ist wahr.
Im Jetzt existiert keine Maske, kein vorgespieltes Lächeln, kein "Ich muss noch schnell". Es gibt nur Sein. Dieses einfache, rohe, manchmal überwältigende Sein. Wer den Mut hat, sich diesem Moment zu stellen, wird nicht immer sofort Frieden finden – aber Wahrheit. In dieser Wahrheit liegt letztlich die Freiheit.
Je tiefer ich ins Jetzt eintauche, desto klarer erkenne ich, dass Schönheit nichts ist, was ich jagen muss. Sie ist bereits da. Sie zeigt sich im Alltäglichen: im Lächeln eines Kindes, das mich zufällig anblickt.
Im Klang des Regens, der auf das Fensterbrett tropft.
In der Wärme einer Tasse Tee, die ich in den Händen haltn, wenn draußen die Welt stürmt. In der Stille, die ich höre, wenn ich nicht abgelenkt bin. Im echten Zuhören. Im achtsamen Gehen.
Die Rückkehr zum Jetzt bedeutet nicht, dass ich Vergangenheit und Zukunft auslöschen soll. Erinnerungen haben ihren eigenen Platz. Die Pläne für die Zukunft auch. Aber sie dürfen nicht mein Zuhause sein. Sie sind wie Werkzeuge – nützlich, aber nicht lebensspendend. Leben geschieht nur jetzt. Immer jetzt. Wenn ich das vergesse, lebe ich nicht – ich funktioniere. Ich springe tagtäglich von Aufgabe zu Aufgabe, von Ziel zu Ziel, in der Hoffnung, dass es irgendwann „beginnt“. Aber das Leben hat längst begonnen. Es wartet nicht auf mich. Es fließt – unaufhaltsam – und fragt nur eines: Bist du dabei?
Viele spirituelle Traditionen, von der buddhistischen Achtsamkeitspraxis bis zur christlichen Mystik, betonen diese Rückkehr zur Gegenwart. Sie sprechen vom inneren Raum, vom Hier und Jetzt, vom wachen Sein. Auch moderne Psychologie entdeckt zunehmend, wie heilsam dieser Zustand ist. Studien zeigen: Wer regelmäßig bewusst im Moment lebt, ist glücklicher, gesünder, ausgeglichener. Und dennoch fällt es schwer – weil ich verlernt habe zu warten, zu lauschen und einfach nur zu sein.
Es braucht Übung. Nicht im Sinne von Leistung, sondern im Sinne von Zuwendung. Vielleicht beginnt es damit, jeden Tag für fünf Minuten nichts zu tun – wirklich nichts. Nur atmen, spüren, sehen, hören, tasten... Kein Ziel, kein Zweck. Nur Kontakt mit dem, was ist.
Vielleicht entdecke ich dann, dass das Jetzt nicht leer ist, sondern übervoll – voller Möglichkeiten, voller Leben und voller Tiefe. Es ist wie ein stiller Ozean, auf dessen Oberfläche mein Alltag treibt. Wer tiefer taucht, erkennt: Da ist mehr. Viel mehr.
Wer ins Jetzt zurückkehrt, lernt, die Welt neu zu sehen. Nicht, weil sie sich verändert – sondern weil mein Blick sich wandelt. Was früher belanglos schien, wird bedeutungsvoll. Was früher stören konnte, wird Teil eines größeren Ganzen. Plötzlich ist die Stille nicht mehr bedrohlich, sondern wohltuend. Die Langsamkeit kein Mangel, sondern ein Geschenk. Und selbst das Schmerzliche verliert seinen Schrecken – weil es gesehen werden darf, ohne dabei verurteilt zu werden.
Die Rückkehr zum Jetzt ist ein stiller Akt der Befreiung. Eine innere Revolution, die keine Schlagzeilen macht, aber mein Leben verändert. Sie entlässt mich aus der Tyrannei des Gestern und der Sorge um das Morgen. Sie schenkt mir das Leben nicht neu – aber sie öffnet mir die Augen dafür, dass es nie fort war. Dass es die ganze Zeit hier war, auf mich wartend. Bereit, erlebt zu werden. Nicht perfektioniert, nicht verbessert, sondern einfach: gelebt.
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