Das Kind in mir
Ich erinnere mich, wie ich eines Tages einen Spaziergang machte, barfuß über eine Wiese. Der Boden war feucht vom Regen, die Gräser kühl, fast schüchtern im Kontakt mit meiner Haut.
MEDITATIVES SCHREIBEN
7/9/20254 min lesen
Das Kind in mir
Eine stille Begegnung mit dem Ursprung
Es gibt Tage, da taucht es auf. Nicht laut. Nicht fordernd. Es steht einfach da – das Kind in mir. Mit großen Augen, voll Staunen und Fragen. Mit einer Zartheit, die längst verloren schien, und einer Verletzlichkeit, die ich einst wegschließen musste, um „erwachsen“ zu sein.
Früher habe ich dieses innere Kind kaum wahrgenommen. Ich war zu beschäftigt mit dem Leben, das man mir gezeigt hatte: Ziele setzen, Aufgaben erfüllen, funktionieren. Ich dachte, das Kind sei längst vergangen, ein Schatten meiner selbst, vergraben unter Schichten von Vernunft, Pflichten, Erfahrungen. Doch das Kind war nie weg. Es war nur still geworden, wartete, bis ich wieder zuhörte.
Es begann mit einer Sehnsucht. Einer, die nicht laut war, sondern leise nagte, wie eine Erinnerung, die ich nicht benennen konnte. Manchmal überkam sie mich in Momenten äußerer Ruhe – bei einem bestimmten Duft, einem alten Lied, dem Geräusch von barfüßigem Laufen über warmes Holz. Dann spürte ich, wie etwas in mir weicher wurde. Fragender. Lebendiger. Und ich begann zu begreifen: Das war nicht nur Nostalgie – das war ein Ruf.
Ich begann mich dem Kind in mir zuzuwenden. Nicht als Therapeut, nicht als Lehrer. Sondern als Mensch. Ich fragte nicht, was es „falsch gemacht“ hatte. Ich fragte: „Wie geht es dir?“ Und es antwortete nicht in Worten, sondern in Gefühlen. In Bildern. In kleinen Impulsen: ein Wunsch nach Verspieltheit, nach Geborgenheit, nach Gesehenwerden.
Ich erinnere mich, wie ich eines Tages einen Spaziergang machte, barfuß über eine Wiese. Der Boden war feucht vom Regen, die Gräser kühl, fast schüchtern im Kontakt mit meiner Haut. Und da war es – für einen Moment – ganz da: mein inneres Kind. Ich sah mich selbst mit fünf Jahren, wie ich durch denselben Sommer ging, barfuß, mit Dreck an den Füßen und Licht in den Augen. Kein Ziel. Nur das Gehen selbst.
Ich begann zu weinen, nicht aus Traurigkeit, sondern aus Rührung. Denn ich hatte so lange gedacht, dieses Kind sei verloren – dabei wartete es die ganze Zeit auf mich. Nicht, um mich zurückzuziehen, sondern um mich zu erinnern.
An das, was wirklich zählt:
Das Staunen.
Das Spielen.
Das bedingungslose Lieben.
Das Kind in mir hat keine Masken. Es fragt nicht, wie es wirkt. Es lebt. Es lacht, wenn es lachen will. Es weint, wenn es traurig ist. Und es glaubt – trotz allem – an das Gute.
Lange habe ich es beschämt. Ich sagte ihm: „Sei nicht so empfindlich. Du musst stark sein. Die Welt ist hart.“ Ich dachte, ich müsste es beschützen, indem ich es zum Schweigen bringe. Aber die Wahrheit ist: Nicht das Kind braucht meinen Schutz – ich brauche seins. Denn es erinnert mich an das, was ich längst zu verlieren drohte: meine Menschlichkeit.
Heute lade ich es manchmal bewusst ein. Ich setze mich in einen Park, lasse die Gedanken ziehen wie Wolken, atme. Und frage: „Bist du da?“ Oft kommt es dann, zaghaft zuerst, wie ein Tier, das lange im Dunkeln lebte. Doch mit jeder Begegnung wird es mutiger. Und ich lerne, mit seinen Augen zu sehen.
Plötzlich ist ein Stein nicht nur ein Stein – er wird ein Schatz. Ein Gesicht in der Menge wird zur Geschichte. Ein einfacher Tag wird zum Abenteuer.
Ich glaube, wir alle tragen dieses Kind in uns. Manchmal lacht es noch laut. Manchmal hat es sich verkrochen. Aber es ist da – in der Art, wie wir staunen. Wie wir uns sehnen. Wie wir lieben, auch wenn wir verletzt wurden. Und je mehr wir es ehren, desto echter werden wir.
Denn das Kind kennt keine Masken. Es weiß nicht, wie man sich verstellt, um zu gefallen. Es will einfach nur: sein.
Ich frage mich oft, wie die Welt aussähe, wenn wir diesem Kind mehr Raum gäben. Wenn wir uns nicht schämten, berührbar zu sein. Wenn wir uns erlaubten, wieder zu spielen, zu irren, zu vertrauen. Vielleicht wäre die Welt dann nicht perfekt – aber wahrhaftiger. Weicher. Menschlicher.
Ich trage heute manchmal ein Bild in der Tasche – ein altes Foto von mir als Kind. Es zeigt mich mit verschmiertem Mund, lachend, voller Leben. Und wenn ich mich verliere in all den Pflichten, in den Erwartungen, in der Müdigkeit des Alltags, dann hole ich dieses Bild hervor. Und ich frage mich: Was würde dieses Kind jetzt brauchen? Nicht als sentimentale Geste, sondern als echte Frage. Und fast immer lautet die Antwort: weniger.
Weniger Druck.
Weniger Ernst.
Weniger Angst, nicht zu genügen.
Das Kind in mir will nicht optimiert werden. Es will gesehen werden. Gehalten. Und manchmal einfach nur spielen.
Ich lerne, ihm das zu geben. Schritt für Schritt. Nicht als Flucht vor dem Erwachsensein, sondern als Rückbindung an das, was mich ausmacht. Denn ohne dieses Kind bin ich funktionstüchtig – aber nicht lebendig.
Wenn ich heute einem Menschen begegne, der schwer trägt, der hart geworden ist im Gesicht, dann frage ich mich nicht, was er tut oder denkt. Ich frage: Wie geht es wohl seinem Kind? Und oft sehe ich es – verborgen hinter Worten, hinter Gesten. Ein Blick genügt. Und manchmal begegnen sich dann zwei Kinder, jenseits der Fassaden. Und es geschieht etwas Echtes.
Ich glaube, Heilung beginnt dort, wo wir uns selbst erlauben, wieder ganz zu sein – nicht trotz unseres inneren Kindes, sondern wegen ihm.
Es ist kein leichter Weg, dieser Rückweg zum Ursprung. Denn das Kind bringt nicht nur Freude. Es bringt auch Trauer, Angst, Wut – all das, was einst keinen Platz hatte. Aber es bringt vor allem eines: Leben.
Und so gehe ich weiter – nicht weg von mir, sondern zu mir hin. Schritt für Schritt, Hand in Hand, mit dem Kind in mir.
Es führt mich.
Nicht mit Worten.
Sondern mit dem, was ich längst vergessen hatte: Vertrauen.
FlowJourney
Yoga, Meditation und kreative Selbstreflexion.
Journey
+49
© 2025. All rights reserved.
Flow